Die Sonne verschwand gerade hinter den Bergen, als Dino, der kleinste Dinosaurier des Tals, mitten auf der großen Wiese stand und konzentriert die Luft anhielt.
Er stellte sich auf seine Zehenspitzen, reckte den Hals so hoch er konnte und öffnete das Maul, bereit für das lauteste Brüllen, das die Welt je gehört hatte.
„Raaa…“ begann er.
Aber dann – nichts. Nur ein leises, kehliges Krächzen. Es klang eher wie ein verirrtes Vögelchen, das nach einem Freund rief.
„Oh nein! Nicht schon wieder!“ rief Dino verzweifelt und ließ seinen Kopf hängen.
Am Rande der Wiese beobachteten seine Freunde das Ganze neugierig. Rex, der größte und stärkste Dino im Tal, kratzte sich am Kopf. „Also, Dino, das war… na ja, ein Anfang?“
Trixi, die flinke Triceratops-Dame, nickte vorsichtig. „Ähm, ja, es war ganz niedlich.“
Dino schnaubte frustriert. „Niedlich ist nicht das, was ich will! Ich will brüllen wie ein echter Dinosaurier!“ Er stampfte mit den Füßen auf, aber selbst sein Stampfen klang irgendwie… klein.
„Ach komm schon, Dino“, sagte Rex gutmütig. „Nicht jeder Dino kann gleich beim ersten Versuch so brüllen wie ich.“
Rex öffnete das Maul und stieß ein donnerndes „RAAAAAAR!“ aus, das durch das ganze Tal hallte.
Vögel flogen erschrocken auf, und sogar die Bäume wackelten ein bisschen.
Dino seufzte tief. „Genau das meine ich. Ich möchte auch so brüllen. Aber egal, wie sehr ich es versuche, es kommt immer nur dieses Piepsen heraus.“
„Vielleicht brauchst du einfach noch etwas Übung“, sagte Trixi und stupste ihn sanft mit ihrem Horn an. „Wie wär’s, wenn wir morgen noch mal üben?“
„Oder heute Abend!“, schlug Rex vor. „Du kannst noch ein paar Übungen machen, bevor du ins Bett gehst.“
Dino schüttelte den Kopf. „Es hilft nichts. Ich übe jeden Tag, aber es wird nicht besser. Ich bin wohl einfach der Dinosaurier, der nicht brüllen kann.“
Er drehte sich um und trottete langsam in Richtung seines kleinen, gemütlichen Nests am Waldrand. Rex und Trixi tauschten einen besorgten Blick.
Als Dino ankam, ließ er sich in sein Nest plumpsen und schaute in den Himmel, der langsam dunkel wurde.
„Warum kann ich nicht so brüllen wie die anderen? Was ist nur los mit mir?“ murmelte er traurig.
Gerade als er sich umdrehte, um endlich die Augen zu schließen, hörte er ein leises Rascheln neben sich.
Er spähte vorsichtig aus seinem Nest und sah – nichts. Nur das sanfte Glimmen der Glühwürmchen, die zwischen den Blättern umherflogen.
Plötzlich hörte er es wieder: ein Rascheln, gefolgt von einem Kichern.
„Wer ist da?“ fragte Dino nervös. Sein Piepsen war jetzt noch leiser als sonst.
„Pssst, wir sind’s, die Glühwürmchen!“ rief eine kleine, piepsige Stimme, und im nächsten Moment flogen dutzende kleine, leuchtende Punkte um ihn herum.
„Ihr… ihr könnt sprechen?“ fragte Dino erstaunt.
„Natürlich können wir das!“ piepste das größte Glühwürmchen fröhlich. „Und wir haben dich gehört, Dino. Du bist traurig, weil du nicht brüllen kannst, oder?“
Dino nickte traurig. „Alle anderen Dinos können so laut brüllen, dass die Erde bebt. Aber ich… ich bringe nur ein Piepsen heraus. Das ist doch nicht, was ein echter Dinosaurier machen sollte!“
„Ach, Quatsch!“ sagte das Glühwürmchen mit einem lustigen Flattern seiner Flügel. „Laut sein ist nicht alles! Manchmal sind die leiseren Töne viel wichtiger.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, murmelte Dino.
„Na, dann hör gut zu!“ rief das Glühwürmchen, und plötzlich fingen alle Glühwürmchen an, in der Luft einen Kreis zu bilden.
Sie summten leise, und ihr Summen wurde immer melodischer, bis daraus ein sanftes, beruhigendes Lied wurde. Es war so leise, dass es kaum zu hören war, und doch… es war wunderschön.
Dino lauschte staunend. „Das… das ist wirklich schön“, flüsterte er.
„Siehst du?“ sagte das größte Glühwürmchen und landete auf Dinos Schnauze. „Manchmal sind die leisen Geräusche die wichtigsten. Du musst nicht brüllen wie ein großer Dino, um gehört zu werden.“
Dino kratzte sich am Kopf. „Aber… ich will doch auch stark und beeindruckend sein. So wie Rex und die anderen.“
„Es gibt viele Arten, stark zu sein“, sagte das Glühwürmchen weise. „Manchmal kann eine sanfte Stimme mehr bewirken als das lauteste Brüllen.“
Dino dachte eine Weile nach und dann fiel ihm etwas ein. „Vielleicht… vielleicht kann ich etwas anderes ausprobieren.“
Am nächsten Tag versammelten sich Rex, Trixi und die anderen Dinos auf der großen Wiese.
Sie warteten gespannt darauf, dass Dino seine Brüllversuche fortsetzen würde. Aber diesmal sah Dino viel selbstbewusster aus.
„Bist du bereit, es noch mal zu versuchen?“ fragte Rex mit einem freundlichen Grinsen.
„Äh, nicht ganz“, sagte Dino und kratzte verlegen mit dem Fuß über den Boden. „Ich… ich möchte euch etwas anderes zeigen.“
„Etwas anderes?“ fragte Trixi neugierig. „Was denn?“
Dino atmete tief ein und schloss die Augen. Statt seinen Hals anzuspannen und ein lautes Brüllen herauszupressen, öffnete er sanft den Mund und begann leise zu summen.
Zuerst war es nur ein leiser Ton, kaum hörbar, doch dann wurde es zu einer zarten Melodie. Sein Summen erfüllte die Luft wie das sanfte Rauschen des Windes durch die Bäume.
Es war ruhig, friedlich und wunderschön.
Die anderen Dinosaurier hörten erstaunt zu. Sogar Rex, der sonst immer so laut und stark war, schloss die Augen und lächelte.
Als Dino aufhörte, war es für einen Moment ganz still. Dann brach Trixi in Applaus aus. „Das war wundervoll, Dino!“
„Das… das war wirklich beeindruckend“, sagte Rex, der fast sprachlos war. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand so leise etwas so Starkes tun kann.“
Dino lächelte schüchtern. „Na ja, ich kann vielleicht nicht brüllen wie ihr, aber… ich kann summen.“
„Summen? Das klingt fast wie Musik!“ rief ein kleiner Velociraptor, der zufällig vorbeikam.
„Musik! Ja, das ist es!“ sagte Trixi aufgeregt. „Dino, du kannst etwas, was keiner von uns kann. Du machst Musik!“
Die anderen Dinosaurier stimmten begeistert zu. „Musik ist genauso beeindruckend wie Brüllen!“, sagte Rex, und er meinte es wirklich ernst. „Vielleicht sogar beeindruckender!“
Dino wurde ganz rot vor Stolz. „Wirklich? Ihr findet das gut?“
„Gut?“ rief Trixi. „Das war großartig! Und weißt du was? Vielleicht kannst du uns sogar alle summen beibringen.“
„Ja!“, rief Rex. „Stell dir vor, wir könnten alle zusammen summen. Das würde fantastisch klingen!“
Dino konnte sein Glück kaum fassen. Die anderen Dinos, die immer so laut und stark waren, wollten von ihm lernen! Und das nur, weil er etwas gefunden hatte, das zu ihm passte.
Von diesem Tag an wurde Dino der Dino mit der schönsten Stimme im Tal. Jeden Abend versammelten sich die Dinos auf der großen Wiese, und während die Sonne unterging, summte Dino leise seine Lieder.
Und manchmal, wenn der Mond aufging und die Sterne funkelten, summten die anderen Dinos mit ihm.
Und so endete jeder Tag im Dino-Tal mit der schönsten Musik, die man sich vorstellen konnte – dank Dino, dem Dinosaurier, der nicht brüllen konnte, aber etwas viel Wichtigeres entdeckt hatte: die Kraft seiner eigenen leisen, wunderschönen Stimme.