Es war ein verregneter Donnerstagnachmittag, und Anna saß mürrisch am Fenster ihres Zimmers. Dicke Tropfen trommelten gegen die Scheiben, während der Himmel dunkelgrau und schwer über der Stadt hing. Anna hatte gehofft, nach der Schule draußen spielen zu können, aber der Regen hatte ihre Pläne zunichte gemacht.
„Das ist so unfair!“, rief sie frustriert, als sie sich vom Fenster abwandte und auf ihr Bett plumpste. „Warum muss es ausgerechnet heute regnen?“
Ihre Mutter, die gerade vorbeikam, lächelte verständnisvoll. „Regen ist nicht immer so schlecht, Anna. Manchmal bringt er auch etwas Magisches mit sich.“
Anna zog eine Grimasse. „Magisch? An Regen ist nichts magisch! Er macht nur alles nass und langweilig.“
Ihre Mutter lachte leise. „Vielleicht, aber manchmal hilft es, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Wer weiß, vielleicht wartet draußen ein kleines Abenteuer auf dich.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ließ Anna nachdenklich zurück.
Anna schnaufte. Ein Abenteuer? Bei diesem Wetter? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Doch als sie sich wieder dem Fenster zuwandte, bemerkte sie etwas Merkwürdiges. Der Regen schien plötzlich leiser zu werden, und die Tropfen, die an der Scheibe hinunterliefen, schimmerten in allen Farben des Regenbogens.
„Was…?“, flüsterte Anna erstaunt, als sie aufstand, um näher hinzusehen. Die Tropfen bildeten seltsame Muster, und als sie ihre Hand gegen das Glas legte, spürte sie eine seltsame Wärme, die von den Tropfen ausging.
Plötzlich hörte Anna ein leises Kichern hinter sich. Sie drehte sich um, doch da war niemand. Als sie sich wieder zum Fenster wandte, stand direkt vor ihr ein kleines Wesen auf der Fensterbank. Es war nicht größer als ihre Hand und sah aus wie ein winziger Regenbogen, der in der Luft tanzte.
„Wer… wer bist du?“, fragte Anna überrascht.
Das Wesen lachte erneut, ein Klang, der wie das Plätschern eines sanften Baches klang. „Ich bin Reginald, der Regenbogenelf“, sagte es mit einer hohen, melodischen Stimme. „Und du bist Prinzessin Anna, nicht wahr?“
Anna blinzelte verwirrt. „Prinzessin? Ich bin doch keine Prinzessin, ich bin nur Anna.“
„Oh, aber heute bist du es“, sagte Reginald und verbeugte sich vor ihr. „Denn heute regiert Prinzessin Anna über das Königreich der Regenpfützen!“
Anna lachte unsicher. „Das Königreich der Regenpfützen? Was ist das?“
Reginald hüpfte von der Fensterbank und landete sanft auf Annas Hand, wo er sich niederließ. „Es ist ein magisches Reich, das nur an Regentagen erscheint. Es ist ein Ort, an dem jede Pfütze ein Tor zu einem anderen Abenteuerland ist. Aber nur die mutigsten und fantasievollsten Kinder können es betreten. Und ich habe gehört, dass du sehr mutig bist.“
Anna spürte, wie ihre Neugier wuchs. „Ich… ich bin mutig, aber wie komme ich dorthin?“
Reginald grinste und zeigte mit seinem winzigen Finger auf die Tür. „Folge mir, Prinzessin Anna, und ich werde dir den Weg zeigen!“
Zögernd, aber auch aufgeregt, folgte Anna dem kleinen Regenbogenelfen durch das Haus und nach draußen. Der Regen hatte aufgehört, doch der Himmel war immer noch von dicken Wolken bedeckt. Überall auf dem Weg und im Garten hatten sich Pfützen gebildet, die im Licht der versteckten Sonne glitzerten.
„Hier sind wir“, sagte Reginald und zeigte auf eine besonders große Pfütze in der Mitte des Gartens. „Dies ist das Tor zum Königreich der Regenpfützen.“
„Aber es ist doch nur eine normale Pfütze“, sagte Anna skeptisch.
„Nicht, wenn du an Magie glaubst“, antwortete Reginald mit einem Augenzwinkern. „Spring hinein, und du wirst sehen.“
Anna war sich nicht sicher, aber irgendetwas an Reginalds fröhlichem Lächeln machte sie mutiger. Sie holte tief Luft und sprang mit beiden Füßen in die Pfütze.
Zu ihrer Überraschung verschwand der Boden unter ihr, und sie fühlte sich, als würde sie in einen weichen, warmen Nebel eintauchen. Die Welt um sie herum drehte sich, und plötzlich fand sie sich in einer völlig anderen Umgebung wieder.
Anna stand inmitten eines weiten, märchenhaften Landes, das in den schillerndsten Farben leuchtete. Der Himmel über ihr war in einem sanften Rosa und Gold getaucht, während die Wiesen unter ihren Füßen von glitzerndem Tau bedeckt waren.
Überall um sie herum waren riesige Regenbögen gespannt, die wie Brücken über das Land führten, und Pfützen in allen Formen und Größen, die in den verschiedensten Farben schimmerten.
„Willkommen im Königreich der Regenpfützen!“, rief Reginald fröhlich, als er neben Anna in die Luft schwebte. „Hier beginnt dein Abenteuer, Prinzessin Anna.“
Anna konnte kaum glauben, was sie sah. „Das ist unglaublich!“, rief sie begeistert. „Was kann ich hier tun?“
„Alles, was du dir vorstellen kannst“, sagte Reginald mit einem breiten Grinsen. „Jede Pfütze ist ein Tor zu einem anderen Abenteuer. Willst du ein Land aus Süßigkeiten besuchen? Oder in einem Schloss aus Wolken tanzen?“
„Kann ich wirklich überall hin?“, fragte Anna aufgeregt.
„Natürlich!“, bestätigte Reginald. „Aber vergiss nicht, dass du der Prinzessin des Tages bist. Du kannst auch anderen helfen, ihre Träume zu erfüllen.“
Anna war begeistert von der Idee, aber etwas in ihr fühlte sich verantwortlich. „Ich möchte gern ein Abenteuer erleben, aber ich möchte auch etwas Gutes tun. Gibt es jemanden, der Hilfe braucht?“
Reginald nickte anerkennend. „Tatsächlich gibt es da jemanden. Am Rande des Königreichs gibt es eine Pfütze, die seit langem vergessen wurde. Sie hat ihre Farben verloren und wird von niemandem mehr besucht. Es heißt, dass nur eine mutige Prinzessin ihr Leben wieder zurückbringen kann.“
„Dann werde ich das tun!“, sagte Anna entschlossen. „Zeig mir den Weg, Reginald.“
Der Regenbogenelf führte Anna durch das Land, vorbei an Pfützen, die wie Spiegel glänzten, und über Regenbögen, die sich wie weiche Teppiche unter ihren Füßen anfühlten. Schließlich erreichten sie eine abgelegene Ecke des Königreichs, wo eine einsame, graue Pfütze lag. Sie war klein, farblos und still, als wäre sie völlig vergessen worden.
„Das ist sie“, sagte Reginald traurig. „Früher war sie die prächtigste Pfütze im ganzen Reich. Aber mit der Zeit haben die Menschen vergessen, wie wichtig sie ist, und so verlor sie ihre Farbe und Magie.“
Anna fühlte Mitleid mit der Pfütze. „Wie kann ich ihr helfen?“
Reginald sah Anna ernst an. „Nur durch deine Vorstellungskraft und deinen Glauben an Magie kannst du sie retten. Du musst ihr die Farben und das Leben zurückgeben.“
Anna kniete sich neben die Pfütze und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, wie die Pfütze einst gewesen sein musste – voll von schillernden Farben, die in der Sonne funkelten, und voller Leben, das um sie herumtanzte. Sie stellte sich vor, wie sie wieder zu einem lebendigen Teil des Königreichs werden könnte.
Langsam, fast unmerklich, begann die graue Pfütze zu leuchten. Zuerst war es nur ein sanfter Schimmer, aber dann wurden die Farben kräftiger und heller. Die Pfütze füllte sich mit Regenbogenfarben, die in einem zauberhaften Tanz um Anna herumwirbelten.
„Es funktioniert!“, rief Anna begeistert. „Sie kommt wieder zum Leben!“
Die Pfütze schimmerte jetzt in all den Farben, die Anna sich vorgestellt hatte. Das Wasser war klar und funkelte wie ein Edelstein im Licht. Es sah aus, als hätte die Pfütze all ihre Magie zurückgewonnen.
„Du hast es geschafft, Prinzessin Anna“, sagte Reginald stolz. „Du hast ihr das Leben zurückgegeben. Jetzt wird sie nie wieder vergessen werden.“
Anna lächelte glücklich. „Ich bin so froh, dass ich helfen konnte.“
„Und jetzt“, sagte Reginald, „sollten wir feiern!“
Er führte Anna zurück in das Herz des Königreichs, wo die anderen Regenbogenelfen bereits warteten. Sie hatten eine riesige Regenbogenparty vorbereitet, mit tanzenden Tropfen, schwebenden Süßigkeiten und Musik, die aus den Pfützen selbst zu kommen schien.
Anna tanzte, lachte und spielte, während der Regenbogenelf ihr fröhlich Gesellschaft leistete.
Schließlich, als der Tag sich dem Ende z
uneigte und die Farben des Himmels langsam verblassten, wusste Anna, dass es Zeit war, zurückzukehren.
„Muss ich wirklich gehen?“, fragte sie ein wenig traurig.
Reginald nickte. „Ja, aber du wirst immer ein Teil dieses Königreichs bleiben. Und wann immer es regnet, kannst du uns besuchen – in deinen Träumen oder vielleicht auch in der Wirklichkeit.“
Anna lächelte. „Danke, Reginald. Ich werde das Königreich der Regenpfützen nie vergessen.“
Mit einem letzten Abschiedswinken sprang Anna in die Pfütze zurück, die sie ins Königreich gebracht hatte. Wieder fühlte sie, wie die Welt um sie herum verschwamm und der weiche Nebel sie umfing.
Als sie die Augen öffnete, stand sie wieder in ihrem Garten, die Pfütze zu ihren Füßen glitzerte noch leicht im Nachglühen des magischen Erlebnisses. Der Regen hatte aufgehört, und ein Regenbogen spannte sich über den Himmel.
„Vielleicht ist Regen doch nicht so schlecht“, murmelte Anna lächelnd und ging ins Haus zurück.
An diesem Abend schlief Anna mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen ein, während draußen der Regen wieder sanft gegen die Fensterscheiben trommelte. Sie wusste, dass sie jan regentagen ederzeit zurückkehren konnte, wenn sie an Magie und Abenteuer glaubte – denn das Königreich der Regenpfützen würde immer auf sie warten.