Es war ein regnerischer Mittwochabend, und Sara lag in ihrem Bett und starrte an die Decke. In zwei Tagen sollte das große Schulkonzert stattfinden, und sie hatte schreckliche Angst davor, vor der ganzen Schule zu singen.
Obwohl sie gerne sang, verließ sie der Mut immer dann, wenn sie daran dachte, vor so vielen Leuten aufzutreten. Ihre beste Freundin Emma hatte ihr immer wieder versichert, dass sie großartig sein würde, aber Saras Bauch fühlte sich trotzdem an wie ein Wirbelsturm aus Schmetterlingen.
„Ich werde mich einfach dumm anstellen“, flüsterte Sara zu sich selbst, während sie die Decke über ihren Kopf zog. „Vielleicht bekomme ich dann eine Erkältung und muss gar nicht singen.“ Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie das nicht wirklich wollte. Sie wollte singen, sie wollte es wirklich, doch die Angst hielt sie gefangen.
Schließlich schlief sie ein, während der Regen sanft gegen ihr Fenster trommelte. Doch statt in ihre gewohnten Träume zu gleiten, fand sich Sara plötzlich in einem völlig anderen Ort wieder. Sie stand in einer riesigen Halle, die aus goldenen und silbernen Noten bestand, die in der Luft schwebten. Die Wände schimmerten wie die Saiten einer Harfe, und über ihr funkelte ein Kronleuchter, der aus tausenden kleinen Glocken bestand, die bei jeder Bewegung einen harmonischen Klang erzeugten.
„Wo… wo bin ich?“, fragte Sara sich laut.
„Willkommen, Prinzessin Sara!“ Eine sanfte, aber klare Stimme erklang hinter ihr. Sara drehte sich um und sah eine freundliche alte Frau mit schneeweißem Haar, das wie Musiknoten in die Luft kringelte. Sie trug ein Kleid, das wie ein fließendes Musikstück wirkte, und in ihrer Hand hielt sie einen Taktstock, der im Takt ihrer Bewegungen glitzerte.
„Prinzessin Sara?“, fragte Sara erstaunt. „Ich bin keine Prinzessin, ich bin nur… Sara.“
„Oh, aber hier bist du das“, sagte die Frau lächelnd. „Hier im Königreich Harmonia bist du Prinzessin Sara, die Hüterin der Musik und des Gesangs. Und wir brauchen dringend deine Hilfe.“
„Meine Hilfe? Aber ich… ich kann doch gar nichts Besonderes“, stotterte Sara.
„Das glaubst du nur, weil du deine wahre Stimme noch nicht gefunden hast“, sagte die Frau geheimnisvoll. „Aber komm mit, wir haben nicht viel Zeit.“
Sara folgte der alten Frau durch die schimmernden Hallen, bis sie schließlich in einen prächtigen Thronsaal gelangten. In der Mitte des Raumes stand ein prächtiger goldener Thron, auf dem jedoch niemand saß. Vor dem Thron befand sich eine große Bühne, die wie aus einem Märchenbuch aussah – mit roten Vorhängen, die aus Seide gemacht schienen, und einem Podium, das aus reinen Klängen bestand.
„Das ist der Thronsaal der Melodie“, erklärte die Frau. „Normalerweise wird dieser Raum von der Magischen Melodie erfüllt, die unser Königreich am Leben hält. Aber seit einigen Tagen ist die Melodie verschwunden, und wir fürchten, dass unser Königreich bald verstummen wird.“
„Wie kann eine Melodie verschwinden?“, fragte Sara neugierig.
„Sie wurde gestohlen“, sagte die Frau mit besorgter Miene. „Eine dunkle Macht, die den Namen Stille trägt, hat die Melodie gestohlen und versteckt. Und nur du kannst sie zurückholen, Prinzessin Sara.“
„Ich?“, rief Sara entsetzt. „Aber… aber ich kann das nicht! Ich habe so schreckliche Angst zu singen!“
Die alte Frau legte Sara sanft eine Hand auf die Schulter. „Die Melodie wird nicht durch Stärke oder Mut gefunden, sondern durch das Erkennen deines wahren Klangs. Es ist deine innere Stimme, die du finden musst. Und ich weiß, dass du sie in dir trägst.“
„Aber wie?“, fragte Sara verzweifelt. „Wie finde ich diese Melodie?“
„Der erste Schritt ist, an dich selbst zu glauben“, antwortete die Frau. „Komm, lass uns die Reise beginnen. Ich werde dich zum Singenden Wald bringen. Dort wirst du den ersten Hinweis auf die Melodie finden.“
Sara fühlte sich immer noch unsicher, aber sie wusste, dass sie keine andere Wahl hatte. Also folgte sie der Frau durch eine große Tür, die in einen wunderschönen Wald führte. Die Bäume waren hoch und majestätisch, und ihre Blätter schimmerten in allen Farben des Regenbogens. Als der Wind durch die Blätter wehte, erzeugten sie ein sanftes Summen, das wie eine leise Melodie klang.
„Das ist der Singende Wald“, erklärte die Frau. „Hier wirst du auf Wesen treffen, die dir helfen können, deine innere Melodie zu finden. Aber sei vorsichtig, die Dunkelheit der Stille lauert überall.“
Sara schluckte nervös und ging tiefer in den Wald hinein. Nach einer Weile hörte sie eine sanfte Stimme, die zu singen schien. Sie folgte dem Klang und fand schließlich einen kleinen Vogel, der auf einem Ast saß und eine wunderschöne Melodie sang.
„Hallo, kleiner Vogel“, sagte Sara schüchtern. „Kannst du mir helfen, die Melodie des Königreichs zu finden?“
Der Vogel hörte auf zu singen und sah Sara neugierig an. „Die Melodie des Königreichs? Oh, die habe ich seit langer Zeit nicht mehr gehört. Aber ich kann dir helfen, deinen eigenen Klang zu finden. Sing mit mir, und du wirst sehen.“
„Aber… ich kann nicht singen“, sagte Sara leise. „Ich habe Angst, dass meine Stimme nicht gut genug ist.“
„Jeder hat eine einzigartige Stimme“, zwitscherte der Vogel fröhlich. „Es kommt nicht darauf an, wie sie klingt, sondern wie du sie fühlst. Versuche es einfach.“
Sara zögerte, aber schließlich begann sie leise zu singen. Zuerst war ihre Stimme zittrig und unsicher, aber als sie sah, wie der kleine Vogel ihr aufmerksam lauschte, fühlte sie sich mutiger. Ihre Stimme wurde fester, und sie spürte, wie die Melodie in ihrem Inneren erwachte.
„Das ist es, Prinzessin Sara“, sagte der Vogel begeistert. „Du findest deine Stimme!“
Doch plötzlich wurde die Luft um sie herum schwer und kalt. Der Wald begann sich zu verdunkeln, und eine unheimliche Stille legte sich über die Melodien der Bäume. Der kleine Vogel verstummte und schien vor Angst zu erstarren.
„Die Stille kommt!“, flüsterte der Vogel panisch. „Schnell, Sara, du musst weitersingen!“
Sara spürte, wie die Dunkelheit näher kam, und ihre Angst kehrte zurück. Doch anstatt zu fliehen, nahm sie all ihren Mut zusammen und begann erneut zu singen – diesmal lauter und kräftiger. Die Dunkelheit zog sich zurück, als ihre Stimme den Raum erfüllte, und die Bäume begannen wieder sanft zu summen.
„Du hast sie zurückgedrängt!“, rief der Vogel erleichtert. „Die Stille kann deine Stimme nicht besiegen, solange du singst.“
Sara fühlte sich plötzlich stärker. „Ich kann das“, flüsterte sie zu sich selbst. „Ich kann die Melodie finden.“
Sie verabschiedete sich von dem kleinen Vogel und ging weiter durch den Wald. Bald fand sie sich vor einem großen, glitzernden See wieder. Auf der anderen Seite des Sees sah sie eine dunkle Gestalt – eine Kreatur aus Schatten, die wie eine verzerrte Melodie aussah. Es war die Stille selbst.
„Du wirst die Melodie niemals finden!“, zischte die Stille. „Deine Angst wird dich verschlingen!“
Sara spürte, wie die Dunkelheit ihre Gedanken einhüllte, aber sie erinnerte sich an die Worte der alten Frau und an den kleinen Vogel. Sie wusste, dass sie an sich glauben musste.
„Ich habe keine Angst vor dir!“, rief Sara und begann erneut zu singen. Ihre Stimme war klar und hell, und der See begann im Takt ihrer Melodie zu schimmern. Die dunkle Gestalt schrie wütend auf, als sie von dem Licht der Melodie zurückgedrängt wurde.
„Nein!“, brüllte die Stille, doch Sara ließ sich nicht beirren. Sie sang weiter, und die Schatten lösten sich langsam auf. Schließlich hörte sie einen anderen Klang – eine sanfte, wunderschöne Melodie, die aus den Tiefen des Sees aufstieg. Es war die Magische Melodie des Königreichs!
Mit einem letzten, kraftvollen Ton zerbrach die Stille vollständig, und die Melodie kehrte zu ihrer vollen Pracht zurück. Der See funkelte im Licht, und die Bäume des Singenden Waldes begannen im Einklang mit der Melodie zu tanzen.
Sara lächelte, als sie spürte, wie der Wald und das Königreich wieder lebendig wurden. Die alte Frau erschien plötzlich neben ihr und nickte anerkennend.
„Du hast es geschafft, Prinzessin Sara“, sagte sie. „Du hast die Melodie gerettet und die Stille besiegt.“
„Ich hätte es ohne die Hilfe der anderen nicht geschafft“, antwortete Sara bescheiden, während sie ihre Umgebung bewunderte, die nun vor Leben und Farbe nur so sprühte. Der Singende Wald war wieder voller Klänge, und die Bäume schimmerten in den schönsten Tönen.
Die alte Frau lächelte sanft. „Das ist die wahre Stärke einer Prinzessin – zu wissen, wann man Hilfe annimmt und wann man anderen hilft. Doch die größte Leistung ist es, den Mut zu finden, den eigenen Weg zu gehen.“
Sara spürte, wie eine Welle des Stolzes und der Erleichterung durch sie hindurchging. „Aber… wie komme ich jetzt zurück? Zurück in die Schule, zurück zu meinem Schulkonzert?“
Die alte Frau hob ihren glitzernden Taktstock und deutete auf den Himmel. „Du hast die Magische Melodie gefunden, und damit hast du auch den Weg zurück gefunden. Aber denk daran, Sara: Das, was du hier gelernt hast, wird dir auch dort helfen. Deine Stimme ist stark, und wenn du daran glaubst, wird sie dich auch im Schulkonzert tragen.“
„Aber was, wenn ich wieder Angst bekomme?“, fragte Sara leise. „Was, wenn die Stille zurückkommt?“
Die alte Frau lächelte geheimnisvoll. „Die Stille kann nur dann Macht über dich haben, wenn du ihr erlaubst, dich zu beherrschen. Solange du singst, solange du an dich selbst glaubst, wird sie keine Chance haben.“
Mit diesen Worten schwenkte die alte Frau ihren Taktstock, und die Welt um Sara begann sich zu drehen und zu verschwimmen. Die Farben des Waldes verwandelten sich in ein Kaleidoskop aus Licht, das immer heller wurde, bis Sara die Augen schließen musste.
Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie in ihrem Bett. Das vertraute Trommeln des Regens war das einzige Geräusch im Raum. Für einen Moment fragte sich Sara, ob das alles nur ein Traum gewesen war. Doch etwas in ihrem Inneren hatte sich verändert. Sie fühlte sich leichter, mutiger.
Am nächsten Morgen in der Schule fühlte sich Sara seltsam ruhig. Sie wusste, dass das Schulkonzert nur noch einen Tag entfernt war, aber die Angst, die sie zuvor gespürt hatte, war nicht mehr da. Stattdessen war da ein leises, aber starkes Gefühl von Zuversicht.
„Wie geht’s dir, Sara?“, fragte Emma, als sie sich in der Pause trafen. „Bist du aufgeregt wegen des Konzerts morgen?“
Sara lächelte. „Ja, ein bisschen. Aber weißt du was? Ich glaube, ich schaffe das.“
Emma strahlte. „Natürlich schaffst du das! Du wirst großartig sein!“
Der Tag des Konzerts kam schneller, als Sara es erwartet hatte. Als sie hinter der Bühne stand und darauf wartete, dass ihr Name aufgerufen wurde, spürte sie, wie die Nervosität zurückkehrte. Doch dann erinnerte sie sich an den Singenden Wald, an den kleinen Vogel und an die alte Frau.
„Ich kann das“, flüsterte sie zu sich selbst und atmete tief durch. „Ich habe keine Angst.“
Als ihr Name aufgerufen wurde, trat Sara auf die Bühne. Die Lichter blendeten sie für einen Moment, aber als sie sich an das helle Licht gewöhnt hatte, sah sie das Publikum. Ihre Klassenkameraden, ihre Lehrer, ihre Eltern – alle sahen sie an.
Für einen Augenblick zögerte sie, doch dann erinnerte sie sich an die Melodie, die sie im Königreich Harmonia gefunden hatte. Sie schloss die Augen, hörte die sanfte Melodie in ihrem Kopf und begann zu singen.
Ihre Stimme war klar und stark, und als sie die ersten Töne traf, spürte sie, wie die Nervosität verschwand. Es war, als ob sie wieder im Singenden Wald stand, umgeben von den schimmernden Bäumen und dem leuchtenden See. Sie konnte fühlen, wie die Magische Melodie in ihr wuchs, und sie ließ sie frei, füllte den Raum mit ihrer Musik.
Als sie den letzten Ton sang und die Augen öffnete, sah sie das Publikum, das still und ergriffen war. Einen Moment lang herrschte eine gespannte Stille, bevor das Publikum in tosenden Applaus ausbrach. Sara strahlte, ihre Angst war endgültig verschwunden.
Nach dem Konzert kam Emma auf sie zugelaufen und umarmte sie. „Sara, das war unglaublich! Du warst so mutig!“
Sara lächelte glücklich. „Danke, Emma. Ich glaube, ich habe etwas Wichtiges gelernt.“
„Was denn?“, fragte Emma neugierig.
„Dass man seine eigene Stimme finden muss, um wirklich mutig zu sein“, antwortete Sara. „Und dass, egal wie groß die Angst ist, man sie besiegen kann, wenn man an sich selbst glaubt.“
In diesem Moment wusste Sara, dass die Reise nach Harmonia mehr war als nur ein Traum. Es war eine Lektion, die sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde. Und wann immer sie wieder Angst hatte, wusste sie, dass sie nur an den Singenden Wald und die Melodie in ihrem Herzen denken musste, um die Dunkelheit zu vertreiben.
Sara ging nach Hause, bereit für alle Herausforderungen. Sie wusste jetzt, dass der Mut, den sie suchte, immer in ihr gewesen war – sie musste nur lernen, ihm zu vertrauen.
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