Leonie lag mucksmäuschenstill in ihrem Bett und schob zum hundertsten Mal ihre Zunge gegen den wackelnden Zahn.
„Wackel, wackel, wackel“, murmelte sie leise und spürte das seltsam aufregende Gefühl, das jedes Mal durch ihren Mund wanderte, wenn der Zahn sich bewegte.
Ihr erster Wackelzahn! Der allererste! Alle anderen in der Vorschulgruppe hatten schon Lücken, und Leonie hatte wochenlang darauf gewartet, dass auch einer ihrer Zähne endlich loswackeln würde.
„Morgen fällt er bestimmt raus“, flüsterte sie ihrer Kuscheldecke zu, die sie fest umklammert hielt. „Und dann kommt die Zahnfee.“
Die Zahnfee! Leonie wusste, dass die Zahnfee in der Nacht kommt, wenn ein Zahn ausgefallen ist, ihn mitnimmt und etwas Magisches dafür zurücklässt. Das Problem war nur, dass sie immer noch ein klein wenig Angst vor diesem Moment hatte.
Was, wenn es wehtat? Oder was, wenn die Zahnfee sich doch nicht traute, zu ihr zu kommen? Schließlich hatte Leonie schon gehört, dass Feen manchmal schüchtern sind.
Plötzlich spürte Leonie eine winzige Bewegung im Zimmer. Ein Lichtschimmer tauchte an der Wand auf, leuchtete für einen Augenblick und verschwand wieder. Leonie kniff die Augen zusammen. Hatte sie das nur geträumt?
Da erklang ein sanftes Glöckchenläuten, ein Klingen wie von kleinen, feinen Glöckchen, und ein zartes, funkelndes Licht schwebte durch das Zimmer. Leonie hielt den Atem an. Vor ihr auf dem Bett stand ein winziges Wesen mit glitzernden Flügeln und einem freundlichen, schelmischen Gesicht.
„Na, so ein Glück! Ich dachte schon, ich hätte mich verflogen!“, piepste das kleine Wesen mit einer Stimme, die wie ein Lied klang.
„Bist … bist du die Zahnfee?“, stammelte Leonie, ihre Augen groß und rund vor Staunen.
Die kleine Fee hüpfte ein paar Mal auf und ab und kicherte. „Na klar! Ich bin Finja, die Zahnfee. Aber ich habe gehört, dass dein Zahn noch fest sitzt.“ Sie kicherte wieder. „Da bin ich wohl ein bisschen früh dran!“
Leonie lachte und war plötzlich ganz aufgeregt. „Wirklich? Du bist die echte Zahnfee? Und warum bist du schon hier?“
Finja legte ihre winzigen Hände an die Hüften und schüttelte den Kopf, sodass ein kleiner Sternenstaubregen von ihr abprasselte.
„Ach, Leonie, die Sache ist die: Wir Feen sind natürlich ganz hervorragend darin, herauszufinden, wann ein Zahn wackelt. Aber manchmal liegen wir ein kleines bisschen daneben.“ Sie zuckte mit den Schultern und lachte.
Leonie kicherte und setzte sich in ihrem Bett auf. „Und was passiert, wenn der Zahn morgen rausfällt? Kommst du dann nochmal?“
„Natürlich, natürlich!“ Finja flatterte ein Stückchen höher, sodass sie auf Leonies Knie sitzen konnte.
„Aber ich dachte mir, ich zeige dir schon mal ein bisschen von der Zahnfeen-Magie, damit du dich auf den großen Moment freuen kannst. Ein Zahn zu verlieren ist schließlich ein echtes Abenteuer!“
„Oh ja!“, strahlte Leonie. „Aber … ehrlich gesagt, hab ich ein kleines bisschen Angst davor.“ Sie senkte den Blick und biss sich verlegen auf die Unterlippe.
Finja legte ihre winzige Hand auf Leonies Finger. „Angst? Davor musst du überhaupt keine Angst haben! Weißt du, was für eine spannende Geschichte dein Zahn zu erzählen hat?“ Sie zwinkerte Leonie zu und wackelte mit ihren Glitzerflügeln. „Möchtest du es hören?“
Leonie nickte eifrig und kuschelte sich gespannt in ihre Decke.
„Also“, begann Finja, „jeder Zahn, der ausfällt, ist sozusagen eine kleine Heldin oder ein kleiner Held. Denn er hat hart gearbeitet!
Dein Zahn zum Beispiel, der ist schon seit Jahren damit beschäftigt, dir beim Kauen, Beißen und Abbeißen zu helfen – und das ganz ohne Pause! Er hat Karotten geknackt, Äpfel geschält und sogar zähe Brotkanten besiegt!“
„Wirklich?“ Leonie lachte. „Also ist mein Zahn eine kleine Superheldin?“
„Genau! Und wenn ein Zahn wackelt, dann heißt das, er darf sich in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden.“ Finja schwang ihren winzigen Zauberstab und zauberte ein kleines Bild von einem lachenden Zahn in der Luft, der auf einem Strandtuch lag.
Leonie lachte laut auf. „Und weißt du was? Wenn du ihn unter dein Kopfkissen legst, darf ich ihn abholen und ihn zu einem Ort bringen, wo alle ausgedienten Zähne miteinander plaudern und ihre Geschichten erzählen.“
„Das klingt toll!“, strahlte Leonie und begann schon, sich darauf zu freuen, ihren Zahn bald unters Kopfkissen zu legen. „Aber sag mal, Finja, was passiert mit dem Zahn dann? Wird er in eine Art … Zahnmuseum gebracht?“
„Oh, das ist eine sehr gute Frage!“, lachte Finja. „Wir Zahnfeen bringen die Zähne zu einem Ort, den wir das Zahnzauberland nennen.
Dort bauen wir aus jedem Zahn etwas Schönes – ein kleines Schloss, eine Brücke oder sogar einen Leuchtturm aus funkelnden Zähnen, die den Weg für uns Feen leuchten.“
Leonie staunte. „Ein Leuchtturm aus Zähnen? Das ist ja unglaublich!“
Finja nickte stolz. „Ja, genau. So können wir Zahnfeen immer sicher zu den Kindern fliegen, wenn sie schlafen. Und manchmal“, fügte sie verschwörerisch hinzu, „lassen wir ein bisschen von unserem Glitzerstaub im Zimmer zurück. Für extra schöne Träume.“
Leonie strahlte. „Dann wünsch ich mir, dass mein Zahn ein Fenster in eurem Zauberland wird, durch das ihr in die Sterne gucken könnt.“
„Das ist eine wundervolle Idee!“, rief Finja begeistert. „Ein Fenster in den Sternenhimmel, perfekt für Träume.“ Sie drehte sich einmal im Kreis, sodass ein paar glitzernde Funken in die Luft stoben. „Aber weißt du, was die wichtigste Regel ist?“
Leonie schüttelte neugierig den Kopf.
„Dass du dir beim Wackeln und Warten immer ein bisschen Spaß machst!“, sagte Finja und zauberte eine winzige, wackelnde Zahnbürste herbei, die in der Luft kleine Kreise drehte. „Der Zahn darf ruhig ein bisschen wackeln und sich feiern lassen – schließlich verabschiedet er sich ja nur einmal.“
Leonie musste lachen. „Ich verspreche, dass ich meinem Zahn noch ein bisschen Spaß mache, bis er wirklich rausfällt.“
„Sehr gut!“ Finja setzte sich wieder auf Leonies Knie und legte feierlich ihre kleine Hand auf ihr Herz. „Dann verspreche ich dir, dass ich wiederkomme, um den tapferen Zahn zu holen. Und vielleicht bringe ich eine kleine Überraschung mit!“
Leonie legte ihre Hand auf die winzige Hand der Zahnfee und nickte feierlich. „Abgemacht, Finja! Ich lege meinen Zahn unters Kopfkissen.“
Die Zahnfee schwirrte aufgeregt hin und her und flüsterte schließlich: „Dann ist es für mich Zeit zu gehen. Ein paar andere Kinder warten auch auf ihre Feenbesuche.“ Sie hob ihren kleinen Zauberstab und zauberte noch ein letztes Mal funkelnde Sterne in die Luft. „Gute Nacht, Leonie. Schlaf schön und träum von unserem Zauberland!“
„Gute Nacht, Finja“, flüsterte Leonie und kuschelte sich unter ihre Decke, während Finja in einer Wolke aus Glitzer und Licht verschwand.
—
In dieser Nacht schlief Leonie mit einem Lächeln ein. Doch plötzlich spürte sie ein kitzelndes Gefühl im Mund. Sie wachte leicht auf und bemerkte, dass etwas Kleines auf ihrer Zunge lag. Vorsichtig tastete sie mit den Fingern danach – es war ihr Zahn!
„Er ist ausgefallen!“, flüsterte sie freudig und setzte sich auf. Das Mondlicht fiel durch das Fenster und beleuchtete den winzigen Zahn in ihrer Hand. „Jetzt kann ich ihn unters Kopfkissen legen!“
Leonie wickelte den Zahn behutsam in ein Taschentuch und schob ihn unter ihr Kopfkissen. „Finja wird sich freuen“, dachte sie und legte sich wieder hin. Sie fühlte sich glücklich und ein bisschen stolz. Ihr erster ausgefallener Zahn!
Am nächsten Morgen wachte Leonie früh auf. Sie tastete sofort unter ihr Kopfkissen – und fand dort ein kleines, funkelndes Päckchen. Aufgeregt öffnete sie es und entdeckte einen winzigen Anhänger in Form eines Sterns, der im Licht glitzerte. Daneben lag ein Zettelchen, auf dem stand:
„Liebe Leonie,
danke für deinen tapferen Zahn! Er wird ein wunderschönes Fenster in unserem Zahnzauberland sein. Hier ist ein kleiner Stern für dich, damit du immer an die Magie glauben kannst.
Deine Zahnfee Finja“
Leonie strahlte über das ganze Gesicht. Sie sprang aus dem Bett und lief zu ihren Eltern, um ihnen alles zu erzählen. „Mama, Papa, schaut mal! Mein Zahn ist ausgefallen, und die Zahnfee hat mir diesen Stern gebracht!“
Ihre Eltern lächelten und freuten sich mit ihr. „Das ist ja wundervoll, Leonie!“, sagte ihre Mama. „Jetzt bist du wirklich schon groß.“
„Und weißt du was?“, fügte ihr Papa hinzu. „Mit dieser Zahnlücke siehst du richtig cool aus!“
Leonie lachte und fühlte sich großartig. Sie wusste, dass ihr Zahn jetzt im Zahnzauberland war und als Fenster diente, durch das die Feen in die Sterne schauen konnten. Und jedes Mal, wenn sie den kleinen Sternanhänger ansah, erinnerte sie sich an die zauberhafte Nacht mit Finja.
Und so begann für Leonie ein neues Abenteuer – mit einer Zahnlücke, einem funkelnden Stern und der Gewissheit, dass ein kleines bisschen Magie immer um sie herum war.