Die Beckhoffs wohnten im zweiten Stock eines alten Mietshauses mit abgewetzten Treppen, dünnen Wänden und einem Fahrstuhl, der öfter kaputt war als funktionierte.
Ihr Nachbar Herr Meier aus dem ersten Stock war ein Griesgram, der sich regelmäßig über den Lärm der Kinder beschwerte, während Frau Busse aus dem dritten Stock sich ständig über die Schuhe im Treppenhaus aufregte.
„Es ist ein Wunder, dass ich mir bei dem Chaos nicht schon den Hals gebrochen habe“, war ihr Standardspruch.
Die Stimmung im Haus war das ganze Jahr über angespannt, aber besonders an Weihnachten schien es noch schlimmer zu werden.
Herr Meier beschwerte sich über Weihnachtslieder, die aus dem Beckhoff-Wohnzimmer drangen, und Frau Busse wetterte, dass die Lichterkette am Balkon der Beckhoffs zu hell sei. „Das ist kein Fest der Liebe“, meinte Papa Beckhoff oft trocken, „das ist ein Fest der Beschwerden.“
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Am Morgen des 24. Dezembers ging es dann richtig los. Herr Meier hatte einen Zettel an die Haustür gehängt: „Ruhestörung melden Sie bitte direkt bei der Polizei – falls die Beckhoffs wieder laute Musik spielen.“
Mama Beckhoff stöhnte, als sie den Zettel las. „Herr Meier hat wirklich zu viel Zeit.“
„Vielleicht sollten wir ihm einfach mal einen Ohrenschutz zu Weihnachten schenken“, schlug Lena, die achtjährige Tochter, vor.
„Oder eine Fahrkarte nach Griesgramhausen“, fügte Max, der Zehnjährige, hinzu und lachte. Doch Mama hob warnend den Finger. „Keine Witze, Kinder. Weihnachten ist ein Fest der Freundlichkeit.“
Doch kaum war der Zettel abgerissen, tauchte Frau Busse auf und zeigte empört auf die Schuhe der Kinder. „Ich habe Ihnen doch gesagt, dass hier keine Stolperfallen sein dürfen! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich hier auf die Nase falle!“
Papa Beckhoff versuchte zu schlichten. „Wir räumen die Schuhe gleich weg, Frau Busse. Schönen Heiligabend wünsche ich Ihnen!“
„Heiligabend? Hah! Mit dieser Lautstärke kann man keinen Frieden finden!“ Sie rauschte davon.
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Als ob der Streit nicht genug gewesen wäre, passierte dann das Unvermeidliche. Gegen Nachmittag wollte Papa die Weihnachtseinkäufe aus dem Auto holen, und natürlich blieb der Fahrstuhl genau in diesem Moment stecken – mit ihm drin. „Klasse“, hörte man ihn durch die Tür rufen. „Fröhliche Weihnachten!“
Die Kinder fanden das zwar lustig, aber Mama weniger. „Keine Sorge, Schatz! Ich rufe den Hausmeister an!“
Der Hausmeister, Herr Klein, war jedoch nirgendwo erreichbar. Stattdessen stand kurz darauf Herr Meier im Treppenhaus. „Was ist denn das jetzt wieder? Bleibt dieser Lärm jetzt den ganzen Abend?“ Er tippte genervt mit dem Regenschirm auf den Boden.
„Mein Mann steckt im Fahrstuhl fest“, erklärte Mama. „Der wird sicher bald wieder funktionieren.“
„Wenn der nicht bald Ruhe gibt, rufe ich die Feuerwehr!“ Herr Meier verschwand in seiner Wohnung und knallte die Tür zu.
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Papa Beckhoff war inzwischen erstaunlich gelassen. „Macht euch keine Sorgen! Ihr könnt ruhig ohne mich feiern. Ich bin hier bestens versorgt.“ Er hatte tatsächlich eine Tüte mit Schokoplätzchen dabei, die er im Fahrstuhl genüsslich auspackte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Lena.
„Vielleicht können wir Weihnachten einfach hier im Treppenhaus feiern“, schlug Max grinsend vor. „Papa ist ja eh schon da.“
„Das ist keine schlechte Idee“, sagte Mama plötzlich. „Vielleicht könnten wir damit auch die anderen Nachbarn ein bisschen besänftigen. Weihnachten ist doch schließlich für alle da.“
„Für Herr Meier und Frau Busse?“, fragte Max skeptisch. „Die hassen doch Weihnachten!“
„Genau deshalb“, sagte Mama mit einem geheimnisvollen Lächeln.
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Die Beckhoffs packten ihre Sachen und richteten das Treppenhaus her. Max trug den kleinen Weihnachtsbaum herunter, Lena dekorierte das Treppengeländer mit der umstrittenen Lichterkette, und Paula, die Jüngste, stellte einen Teller mit Keksen auf die Treppenstufen.
„Das sieht gar nicht so schlecht aus!“, sagte Max, als sie fertig waren.
Mama nickte. „Jetzt fehlt nur noch der schwierigste Teil.“ Sie klopfte an die Türen der Nachbarn.
Herr Meier öffnete einen Spalt. „Was wollen Sie jetzt wieder?“
„Wir haben Weihnachten ins Treppenhaus verlegt“, erklärte Mama freundlich. „Wollen Sie mitmachen? Es gibt Kekse und Glühwein.“
Herr Meier runzelte die Stirn. „Ich trinke keinen Glühwein.“
„Es gibt auch Tee“, sagte Lena schnell.
„Hm.“ Herr Meier zog die Tür ein wenig weiter auf. „Na gut. Aber nur, weil der Fernseher eh kaputt ist.“
Frau Busse kam ebenfalls skeptisch nach draußen. „Was ist das für eine Idee?“
„Ein Weihnachtswunder!“, sagte Paula strahlend. „Mama hat gesagt, dass wir alle zusammen feiern können.“
Wider Erwarten wurde es tatsächlich gemütlich. Papa Beckhoff sang ein paar Weihnachtslieder durch die Fahrstuhltür, Herr Meier entdeckte, dass er die Plätzchen eigentlich recht lecker fand, und Frau Busse schimpfte weniger als üblich.
Die Kinder führten ein improvisiertes Krippenspiel auf, bei dem Paula die Rolle des Engels übernahm und Max Josef spielte.
„Ihr seid wirklich ein kreativer Haufen“, murmelte Herr Meier, als er sich ein zweites Stück Stollen nahm. „Ich hätte nie gedacht, dass Weihnachten so… angenehm sein kann.“
„Vielleicht haben Sie ja auch eine Weihnachtsgeschichte, Herr Meier?“, fragte Lena.
Herr Meier zögerte. Dann begann er zu erzählen, wie er als Kind einmal einen Schlitten gebaut hatte und mit seinen Geschwistern durch den Schnee gerast war. Zum ersten Mal sahen die Beckhoffs ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Frau Busse schloss sich an und berichtete von ihrem Weihnachtsbaum, der jedes Jahr von ihrer Katze umgeworfen wurde. Die Kinder lachten so sehr, dass sie fast die Kekse vom Teller schubsten.
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Plötzlich hörte man ein Surren, und der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Die Tür ging auf, und ein leicht zerzauster Papa Beckhoff trat heraus. „Na endlich!“, rief er. Doch als er die Szene im Treppenhaus sah, hielt er inne. „Hab ich was verpasst?“
„Nur ein kleines Wunder“, sagte Mama lächelnd.
Die Nachbarn verabschiedeten sich schließlich spät am Abend. Herr Meier murmelte ein leises „Frohe Weihnachten“, und Frau Busse nickte anerkennend. „Ihre Lichterkette ist doch gar nicht so schlecht.“
Als die Beckhoffs in ihre Wohnung zurückkehrten, schauten sie sich an und brachen in Lachen aus.
„Das war das verrückteste Weihnachten aller Zeiten“, sagte Max.
„Und vielleicht auch das schönste“, fügte Lena hinzu.
„Ich hoffe, nächstes Jahr bleiben wir wieder im Treppenhaus!“, sagte Paula und kuschelte sich auf die Couch.
„Mal sehen“, sagte Mama mit einem Zwinkern. „Aber eines steht fest: Ein bisschen Weihnachtszauber kann sogar die griesgrämigsten Herzen erweichen.“
Und damit ging ein ganz besonderes Weihnachtsfest zu Ende.
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