Die Schneeflocken tanzten wie kleine Sterne durch die Luft, als Großmutter ihren schweren Koffer auf den Bahnsteig zog. Der Wind zerrte an ihrem Mantel und ihrer dicken Wollmütze, aber ihre Augen leuchteten vor Freude.
Sie war auf dem Weg zu ihrer Familie, um mit ihrer Tochter und ihren Enkeln Lilly und Max Weihnachten zu feiern. Der Gedanke an die Kinder, wie sie mit strahlenden Gesichtern auf ihre Ankunft warteten, ließ ihr Herz vor Vorfreude hüpfen.
Doch kaum war sie im Zug und hatte ihren Platz am Fenster gefunden, kündigte der Schaffner eine schlechte Nachricht an.
„Meine Damen und Herren, aufgrund eines plötzlichen Schneesturms kommt es zu massiven Verspätungen und Streckensperrungen. Wir bitten um Geduld und entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten.“
Großmutter seufzte. „Na, das fängt ja gut an,“ murmelte sie und griff zu ihrem Handy, um ihre Tochter anzurufen. „Ich bin noch im Zug, aber es sieht aus, als würde ich mich verspäten.“
Am anderen Ende der Leitung hörte sie Lillys enttäuschte Stimme: „Kommt Oma jetzt gar nicht?“ Lillys Mama reichte ihr das Handy weiter.
„Doch, meine Kleine, ich komme!, sagte Oma. Vielleicht ein bisschen später, aber ich bin bald bei euch. Versprochen!“.
Der Zug blieb schließlich an einem kleinen Bahnhof stehen, mitten im Nirgendwo. Es gab keine Weiterfahrt und weit und breit war kein Taxi in Sicht.
Die wenigen Fahrgäste stiegen aus und suchten Schutz in der winzigen Bahnhofshalle. Dort war es immerhin warm, und eine alte Stehlampe in der Ecke verbreitete ein gemütliches Licht. Großmutter setzte sich auf eine Holzbank und musterte die anderen Reisenden.
Ein junger Mann schob eine Gitarre aus der Hülle und begann, leise „Stille Nacht“ zu spielen. Eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm summte mit, und nach und nach stimmten immer mehr Menschen ein.
Großmutter konnte nicht anders, als mitzusingen. Ihre klare Stimme schwang sich durch den Raum und wärmte die Herzen aller Anwesenden.
„Das ist ja fast wie ein kleines Weihnachtskonzert,“ sagte eine ältere Dame mit rotem Schal und klatschte begeistert in die Hände. „Und Sie, liebe Frau, haben eine wunderbare Stimme!“
Großmutter lächelte dankend, aber in ihrem Inneren spürte sie einen Kloß im Hals. So schön das Singen war, sie konnte den Gedanken nicht loswerden, dass sie Lilly und Max vielleicht nicht rechtzeitig erreichen würde.
Ihre Familie war ihr wichtigstes Geschenk, und die Vorstellung, dass die Kinder traurig vor dem Weihnachtsbaum sitzen würden, war fast unerträglich.
Nach einer Weile klingelte ihr Handy. Es war Max. „Oma, wo bist du?“ fragte er mit dünnem Stimmchen.
„Ich sitze in einer Bahnhofshalle, mein Schatz. Es schneit so stark, dass die Züge nicht weiterfahren können.“
„Aber du musst kommen! Sonst hat der Weihnachtsmann bestimmt Angst, allein zu uns zu kommen,“ erklärte Max.
Großmutter lachte sanft. „Keine Sorge, Max. Ich werde einen Weg finden. Der Weihnachtsmann und ich lassen euch nicht im Stich!“
Nachdem sie aufgelegt hatte, fiel ihr Blick auf einen großen LKW, der vor der Bahnhofshalle hielt. Der Fahrer, ein kräftiger Mann mit freundlichem Gesicht, stieg aus, um sich die Beine zu vertreten. Großmutter zögerte einen Moment, dann fasste sie Mut und ging auf ihn zu.
„Entschuldigen Sie, junger Mann,“ begann sie, „sind Sie vielleicht auf dem Weg Richtung Stadt? Ich muss unbedingt nach Hamburg, zu meinen Enkeln.“
Der Fahrer sah sie erstaunt an, dann grinste er. „Na klar, ich fahre über die Elbbrücken in die Stadt. Aber ich muss Sie warnen, es geht nur im Schneckentempo. Die Straßen sind ein einziges Chaos.“
„Das macht nichts, hauptsache ich komme irgendwie an,“ sagte Großmutter entschlossen.
„Na dann, steigen Sie ein!“ Der Mann – er stellte sich als Hannes vor – half ihr mit dem Koffer und brachte sie ins warme Fahrerhaus des LKW.
Kaum waren sie losgefahren, begann das Radio „Jingle Bells“ zu spielen. Hannes klopfte im Takt aufs Lenkrad und begann mit kräftiger Stimme mitzusingen. „Los, singen Sie mit! Das hebt die Laune.“
„Na gut,“ lachte Großmutter und stimmte ein. Gemeinsam sangen sie so laut, dass sie den heulenden Wind draußen fast übertönten.
Es war eine seltsame, aber fröhliche Szene: ein riesiger LKW, der langsam durch den Schneesturm kroch, während drinnen zwei Menschen „Jingle Bells“ aus voller Kehle schmetterten.
„Fahren Sie oft an Weihnachten?“ fragte Großmutter, als sie kurz eine Pause machten.
„Eigentlich nicht,“ antwortete Hannes. „Aber ich musste noch eine wichtige Lieferung machen. Ich freue mich auch schon darauf, meine Familie zu sehen.
Meine Frau macht die besten Weihnachtsplätzchen der Welt. Und meine Tochter? Die wartet sicher genauso sehnsüchtig wie Ihre Enkel.“
Das wärmte Großmutters Herz. „Dann sollten wir uns beeilen, Hannes. Keiner will, dass die Kinder zu lange warten.“
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichten sie endlich die Elbbrücken. Der Schneesturm hatte hier nachgelassen, und unter der glitzernden Schneedecke sah die Stadt fast wie ein Wintermärchen aus. Großmutter konnte bereits die beleuchteten Häuser der Hafencity am Horizont erkennen.
Hannes lenkte den LKW behutsam durch die verschneiten Straßen. Sie waren jetzt mitten in der Stadt, der Rathuasmarkt war nicht weit entfernt. In der Nähe des Rödingsmarktes hielt Hannes den LKW in einer Haltebucht.
„So, hier um die Ecke ist Ihre Haltestelle,“ sagte Hannes. „Von hier aus schaffen sie es weiter. Viel Glück und frohe Weihnachten!“
„Danke, Hannes! Und auch Ihnen ein wunderschönes Fest mit Ihrer Familie!“ rief Großmutter, bevor sie ausstieg.
Die U-Bahn kam nach wenigen Minuten Wartezeit. Großmutter fuhr die letzten Stationen mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen.
Kurz vor ihrer Ankunft rief sie ihre Tochter an. „Ich bin gleich da! Macht euch bereit.“
Als sie schließlich die Haustür öffnete, stürmten Lilly und Max ihr entgegen. „Oma, du bist da! Du bist wirklich da!“ riefen sie begeistert und sprangen ihr in die Arme.
„Na klar bin ich da,“ sagte Großmutter lachend und drückte sie fest an sich. „Kein Schneesturm der Welt hält mich von euch fern!“
Mama kam aus der Küche, in der es nach frisch gebackenen Plätzchen duftete. „Du hast es geschafft. Wir hatten schon Angst, dass du nicht mehr kommst.“
„Es war ein kleines Abenteuer, aber jetzt bin ich hier. Und ich habe die besten Weihnachtsgeschichten im Gepäck,“ sagte Großmutter augenzwinkernd.
Der Weihnachtsabend wurde zu einem Fest voller Lachen, Gesang und Geschichten. Großmutter erzählte von der Bahnhofshalle, den gestrandeten Reisenden und ihrer Fahrt mit Hannes im LKW.
Lilly und Max lauschten gebannt und bestanden darauf, dass Hannes zu ihrem Weihnachtshelden erklärt wurde.
Später, als alle zusammen um den Weihnachtsbaum saßen, dachte Großmutter daran, wie knapp sie es geschafft hatte. Das Fest war perfekt – mit Familie, Geschichten und einem Lächeln auf den Gesichtern von Lilly und Max.
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